Der Vorschlag des Paderborners Klaus Gjasula klingt zunächst kurios: Helmpflicht für alle Fußballspieler im deutschen Profifußball. Das, was beim Skifahren, im Amateurboxen oder im Radsport längst dazugehört wie ein Netz am Tor, soll künftig auch in der Lieblingssportart der Deutschen zur Vorschrift werden? Da mag mancher bei dem Gedanken schmunzeln, und bevor so eine Regel greift, bräuchte es fraglos noch eine Menge Vorarbeit. Denn zunächst müssten zwei Dinge geklärt werden: Was für eine Helmart macht Sinn und wie kann gleichzeitig verhindert werden, dass sich die Sportart Fußball dadurch verändert.
Im Sinne der Gesundheit kann Gjasulas Idee allerdings niemand ernsthaft wegdiskutieren. Zumal Statistiken eindeutig belegen, dass auch im Fußball die Kopfverletzungen zunehmen. Allerdings gab es im Fußball noch keinen bekannten Profi, der nach einer schweren Schädelfraktur mit bleibenden Schäden seine Karriere beenden musste. Das war bei Skirennfahrern, Boxern oder Radprofis anders. Deshalb gilt auch für die Helmpflicht im Fußball: Erst müssen sich schlimme Unfälle häufen, dann findet ein Umdenken statt. Anders ausgedrückt: Bevor es zumindest eine Empfehlung gibt und sich damit auch hier die Vernunft gegen alle Zweifel durchsetzt, wird es einen anderen Meister als Bayern München geben.
„Wenn jemand nichts hat, denkt er: ‚Ist der bekloppt, dass der mir das empfiehlt? Ich bin doch gesund.‘ Der Mensch handelt erst dann, wenn es schon passiert ist, nicht davor“, so Gjasula.¹
Neue Expertise soll helfen, Prävention, Diagnostik und Behandlung beim Schädelhirntrauma zu verbessern
Leichte Gehirnerschütterungen, wie sie auch im Sport immer wieder vorkommen, werden trotz Aufklärungskampagnen in vielen Fällen immer noch nicht richtig ernst genommen, weil oft nur milde Symptome wie etwa Kopfschmerzen oder Schwindel auftreten. Über mögliche dauerhafte, schwere Schädigungen des Gehirns durch solche sogenannten Concussions, vor allem wenn sie mehrfach erlitten werden, gibt es bislang kaum gesicherte klinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse. Dabei gehen Experten davon aus, dass Kopfverletzungen langfristig Folgen wie Leistungsabfall, Persönlichkeitsveränderung, Demenz oder Depression bis hin zum Selbstmord haben können.
„Es gibt zu diesem Thema in vielen Bereichen ein enormes Forschungsdefizit“, sagt Jürgen Fischer, Direktor des Bundesinstituts für Sportwissenschaft (BISp). Zu diesem Ergebnis kam die vom BISp initiierte und von der Universität Paderborn sowie dem BG Klinikum Unfallkrankenhaus (ukb) erstellte Expertise „Schädelhirnverletzungen im deutschen Spitzensport“, die heute in Berlin vorgestellt wurde. Fischer: „Die Zeit ist überfällig, auf Grundlage der Expertise alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um Sportler und Sportlerinnen vor den Gefahren von Gehirnerschütterungen zu schützen.“ Allein in Deutschland werden jährlich 44.000 solcher Kopfverletzungen im Sport erfasst, die Dunkelziffer liegt aber nach Experten-Ansicht deutlich höher. Für Klaus Vitt, Staatssekretär im Bundesinnenministerium, eine „erschreckende Zahl“. Er warnte davor, Gehirnerschütterungen zu verharmlosen und zu bagatellisieren.
„Es fehlt an fundierter Sensibilisierung für dieses Thema bei Sportlern, Trainern und Ärzten und es gibt bislang keine einheitliche Definition des Begriffs Concussion“, beschreibt Prof. Dr. Dr. Claus Reinsberger von der Universität Paderborn einige der Defizite im Umgang mit Schädelhirnverletzungen. „Wir brauchen für die Beurteilung von möglichen Schädigungen des Gehirnes eine standardisierte Diagnostik und situationsgerechte Behandlungsabläufe. Und wir müssen auch die Auswirkungen auf Spätfolgen im Blick haben“, sagt Prof. Dr. Dirk Stengel vom Zentrum für klinische Forschung am ukb. Bei der Erstellung der Expertise kamen die Forscher zu einigen interessanten Ergebnissen: So hängt beim Fußball die Häufigkeit von Gehirnerschütterungen von der Spieler-Position ab: Am gefährdetsten sind die Verteidiger (37,9 %), gefolgt von Mittelfeldspielern (27,6 %), Stürmern (27,6 %) und Torwarten (6,9%). Neben Fußball wurden Rugby, Eishockey, American Football und Basketball als die Sportarten mit den meisten Fällen von Gehirnerschütterungen ausgemacht.
An den Folgen vieler schwerer Kopfverletzungen leidet bis heute der ehemalige NFL-Spieler Patrick Venzke. Er war der erste Deutsche in der amerikanischen Profi-Football-Liga und trainierte und spielte oft trotz Gehirnerschütterung. Er sagt: „Ich habe Angst, dass ich durch die ständigen Kopfverletzungen während meiner Profi-Zeit dauerhafte Gehirnschädigungen erlitten habe. Gerade in Stress-Situationen habe ich schwer kontrollierbare Aggressionszustände und immer wieder kommen auch mal Suizid-Gedanken auf. Ich sehe es deshalb als meine Mission an, davor zu warnen, welche dramatischen Folgen Concussions langfristig haben können.“
Das BISp will auf Grundlage der Expertise jetzt weitere Forschungsprojekte anstoßen und den so wichtigen Transfer in die Sportpraxis begleiten. BISp-Direktor Jürgen Fischer schätzt den Finanzbedarf für die Forschungsarbeit auf „mindestens sechs bis acht Millionen Euro in den kommenden vier Jahren“. Unterstützt werden diese Anstrengungen vom Sportausschuss des deutschen Bundestags, der sich vor kurzem mit dem Thema Schädelhirnverletzungen im Sport beschäftigt hat. Dabei haben Abgeordnete quer durch alle Fraktionen bekräftigt, wie wichtig es ist, die Aufklärung zu diesem Thema voranzutreiben. Auch Prof. Dr. Bernd Wolfarth, leitender Arzt des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), setzt sich für größere Präventions-Anstrengungen ein: „Wichtig ist, das bislang bekannte Wissen in die Praxis umzusetzen und alle am praktischen Sportgeschehen Beteiligten zu schulen, damit sie die problematischen Fälle erkennen und möglichst schnell adäquate Maßnahmen ergreifen.“²
¹Westfalen-Blatt ²Bundesinstitut für Sportwissenschaft